Der ‚Cradle to Cradle Ansatz‘ wird in der aktuellen Debatte über das Stoffstrommanagement in Wissenschaft und NGOs aus guten Gründen nicht verfolgt. Das Konzept wurde ursprünglich vom durchaus geschätzten Kollegen Michael Braungart (Hamburg) entwickelt. Vielleicht sind Euch noch die propagierten ‚essbaren Flugzeugsitze‘ in Erinnerung, die als Beispiel für cradle-to-cradle seinerzeit ein breites Medienecho gefunden haben.
Zunächst einmal ist die Intention des Ansatzes durchaus nachvollziehbar. In der Debatte über Lebenszyklusanalysen war es ein Fortschritt, dass Umweltwirkungen nicht nur bei der Herstellung oder beim Gebrauch, sondern über die gesamte Lebensphase von Produkten berücksichtigt werden: Von der Wiege bis zur Bahre. Dabei geht es um Umweltwirkungen von Produkten wohlgemerkt. Braungart hat den Gedanken dann auf das Stoffstrommanagement übertragen mit der ebenfalls durchaus nachvollziehbaren Intention der Kreislaufwirtschaft, dass Abfälle zu Rohstoffen werden sollen – von der Wiege zur Wiege eben, cradle to cradle.
Hier beginnen nun allerdings die Probleme, die dazu führen, dass in der wissenschaftlichen Debatte das Konzept nicht aufgegriffen wurde, aber auch nicht von den NGOs, z. B. nachlesbar in der jüngsten BUND-Position 69 ‚Herausforderungen für eine nachhaltige Stoffpolitik‘ vom Oktober 2019. Dort steht der Begriff des ‚Stoffstrommanagement‘ als gesellschaftliche Aufgabe im Zentrum. Wenn es um Zielperspektiven geht, wird von Kreislaufwirtschaft gesprochen.
Das cradle2cradle Konzept geht davon aus, dass alle Stoffe innerhalb der Technosphäre (!) im Kreis geführt werden sollen. Dann würden keine Abfälle mehr entstehen. Dabei wird aber weder berücksichtigt, dass bisher für alle Stoffe, die wir kennen nur ein Downcycling möglich ist, und selbst dieses aus thermodynamischen Gründen auch nur mit einer deutlich begrenzten Effizienz. Kurz gesagt: Wenn wir uns einem 100%igen Recycling annähern, steigt der dafür nötige Energieaufwand exponentiell. Selbst bei Metallen, die ja wenigstens im Prinzip auf gleichem Qualitätsniveau recyclierbar wären, steht die Mischungsthermodynamik im Weg, die Verunreinigung z. B. des Stahls durch sogenannte ‚tramp elements‘ wie Kupfer und Zinn, die nur durch extremem Aufwand aus der Schmelze entfernt werden können. Die meisten Kunststoffe sind für eine Kreislaufführung aus verschiedenen Gründen (keine Thermoplaste, Degradation durch UV, Hitze, Chemikalien, Mischungen/Verbunde, Additive usw.) ohnehin denkbar ungeeignet. Aber auch die biogenen Stoffe sollten möglichst oft im Kreis geführt (oder zumindest wie bei Holz und Papier schon teilweise praktiziert) kaskadenförmig genutzt werden, bevor sie wieder (falls noch assimilierbar) in die Ökosphäre zur Kompostierung (und Humuserzeugung) entlassen werden.
Ein weiteres Manko des C2C-Konzepts besteht somit darin, dass der Austausch zwischen Technosphäre und Ökosphäre, den es auch in der besten aller möglichen Welten geben wird, nicht richtig vorkommt, also weder die Frage der Ressourcenverfügbarkeit bzw. der Tragekapazität der entsprechenden natürlichen Systeme, als auch die Qualitäten und Quantitäten der Emissionen aus der Technosphäre in die Ökosphäre, deren Tragekapazität am Beispiel des 2-Grad-Ziels in der Klimapolitik aktuell intensiv diskutiert wird, nicht zuletzt im Rahmen der ‚planetary boundaries‘.
Nun könnte man fragen, was schadet es unserem Programm, wenn es utopische Elemente enthält und dabei aktuelle Debatten und Positionen ignoriert? Dem würde ich entgegnen, dass das im Titel des Programm-Abschnitts angesprochene Ziel der ‚Kreislaufwirtschaft‘ selbst schon eine gehörige Portion Utopie transportiert.
Ich bin mir im Übrigen nicht sicher, ob jemand in der Programmkommission sich das Konzept, die homepage und das Netzwerk, bei dem wir Mitglied werden sollen, mal etwas genauer angeschaut hat. In der LAG Umwelt hat es jedenfalls in der Folge meiner ersten Interventionen schon im Mai (!) auf die unten stehenden Vorschläge leider keinerlei Reaktion und Debatte darüber gegeben.
Auszug aus dem seinerzeitigen Vorschlag:
„Die Mitgliedschaft im Netzwerk “C2C Regionen” kostet jährlich 3200,- €.
Im Gegenzug dient das Netzwerk fortan als Austauschplattform zur Vernetzung von Unternehmen, Organisationen und Politik auf kommunaler Ebene. Seine Mitglieder sowie die MitarbeiterInnen der C2C NGO stehen auf dem Weg zur Cradle to Cradle-Modellregion u.a. bei der Umsetzung von Netzwerkveranstaltungen, Weiterbildungsangeboten und Öffentlichkeitsarbeit begleitend zur Seite.
Die geplante Zertifizierung klimafreundlicher bremischer Produkte und Dienstleistungen unter dem "Bremen Label" baut auf den Kriterien des C2CPII auf:
- Materialgesundheit
- Kreislauffähigkeit
- Saubere Luft und Klimaschutz
- Schutz von Wasser und Boden
- Soziale Gerechtigkeit
Als mögliches Leuchtturmprojekt bietet sich das von der LAG Europa, Frieden & Internationales vorgeschlagene Bremer „Forum Demokratie“ an: ein klimapositives, modulares, materialgesundes, kreislaufbewusstes Gebäude - sichtbar und erfahrbar für alle.
Erläuterungen, Ergänzungen, Studien etc.
C2CPII = Cradle to Cradle Products Innovation Institute (www.c2ccertified.org)“
Kommentare
Vanessa Radtke:
Dein ausführlicher Begründungstext fußt leider auf einer Reihe falscher Grundannahmen über Cradle to Cradle.
Wer sich die von dir angesprochenen Internetauftritte tatsächlich anschaut, wird schnell feststellen: alle aktuellen Darstellungen des Konzepts, sowie auch die offiziellen Logos der Cradle to Cradle NGO und der C2C-Zertifizierungsstelle bilden das Konzept als zwei ineinandergreifende Kreisläufe ab: den biologischen Kreislauf ("Biosphäre") und den menschengemachten technologischen Kreislauf ("Technosphäre").
Ein Leben und Wirtschaften nach Cradle to Cradle bedeutet unter anderem:
- Produkte und Materialien, die in die Biosphäre gelangen, müssen biologisch abbaubar sein (z.B. Reifenabrieb)
- alles, was nicht biologisch abbaubar ist, darf ausschließlich in der Technosphäre zirkulieren
- Produkte, die aus biologisch abbaubaren UND nicht biologisch abbaubaren Materialien bestehen, müssen so entworfen und hergestellt sein, dass sich die unterschiedlichen Materialien sortenrein trennen lassen und innerhalb ihrer jeweiligen Sphären zirkulieren können
- auch Produkte der Biosphäre sind im Idealfall so designt, dass sie mehrmals im technischen Kreislauf verwendet werden, bevor sie abgebaut werden -> die von dir erwähnte Mehrfachverwendung von Holz (später als Papier und schließlich der biologische Abbau) ist ein gutes Beispiel hierfür.
Da - wie du richtig beschreibst - selbst in einer Welt mit geschlossenen Kreisläufen eine große Menge an Energie und Ressourcen verbraucht wird, um diese "am Laufen zu halten", spricht man bei C2C vom Ziel der KlimaPOSITIVITÄT (im Gegensatz zur Klimaneutralität).
Das heißt, dass unsere Güter so entworfen und hergestellt werden müssen, dass sie nicht nur "weniger schlecht" sind, sondern einen positiven Fußabdruck hinterlassen (z.B. mehr CO2 binden als ausstoßen). Nur so lässt sich eine positive Gesamtbilanz erreichen.
Das erwähnte BUND - Positionspapier enthält im Übrigen zahlreiche Forderungen, die mit der C2C-Denkschule in Einklang stehen:
- Vermeidung unumkehrbarer Umweltschäden, u.a. durch Anreicherung von nicht oder schwer biologisch abbaubaren Stoffen in der Natur
- Vermeidung nicht recyclefähiger Verbundwerkstoffe
- Betrachtung des zukünftigen Nutzungsszenarios eines Produkts und der daraus folgenden Konsequenzen für dessen (Material-)Eigenschaften bereits in der Entwicklungsphase
- Kritik an "grünem Wachstum" allein durch Effizienzsteigerungen
- Betrachtung von Aspekten, die über Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit hinausgehen (z.B. soziale Verantwortung, (Material-)Gesundheit,...)
- Befürwortung von modularen Bauweisen, Reparaturfreundlichkeit und Dienstleistungsmodellen
- Ausrichtung nach dem Leitbild der Natur
(in der Natur sind z.B. alle "Abfallprodukte" zugleich Nährstoffe)
Bei genauerer Betrachtung wird also deutlich:
Die dort verwendeten Begriffe "Stoffstrommanagement" und "Kreislaufwirtschaft" sind keine konkurrierenden Ansätze, sondern Teilaspekte des viel breiteren und weitergehenden C2C-Ansatzes.
Cradle to Cradle ist - genauso wie Kreislaufwirtschaft - keine Utopie, sondern eine Vision, an deren Umsetzung schön längst diverse Akteur*innen arbeiten: Unternehmen, Bildungseinrichtungen, Nichtregierungsorganisationen, Produktdesigner*innen, Architekt*innen, Wissenschaftler*innen,... und Politiker*innen.
Auch Bremen könnte bald ein Teil dieses wachsenden Netzwerks sein.